Monatsarchiv für Mai 2016

 
 

Sokratische Einsicht

Das Angebot, das die Philosophie den Menschen zu machen hat, besteht darin, sie zu ermächtigen und ihnen ein bewusstes, informiertes und wohlüberlegtes Stellungnehmen zu ermöglichen. Das aber bedeutet, sie von der Zwangsjacke mitgebrachter und häufig unreflektierter Vorentscheidungen, von den mentalen Zufluchtsstätten der Ideologie und des Hypermoralismus, zu befreien. Die Menschen sollen, wie Hampe auch sagt, «reagieren» können; und dieses Reagieren, dieses Stellungnehmen ist recht verstanden selbst schon ein Agieren. Es setzt die eigene Initiative voraus, es verlangt den Mut und die Kraft, unbedachte Gewohnheiten zu überprüfen und sich der wiederum sokratischen Einsicht zu stellen, dass eine allgemeine Lehre, eine Lehre für jedermann und für alle Fälle, nicht verfügbar ist. Der Negativismus der Sokratik ist eine Desillusionierung, die Desillusionierung eine Befreiung. Sie erst verschafft uns die Möglichkeit, sagt Hampe, uns zu freien Gestaltern unseres eigenen Lebens zu entwickeln.

Ralf Konersmann zu Michael Hampes “Die Lehren der Philosphie” in der NZZ am 30. 4. 2014