Jahresarchiv für 2021

 
 

Das Top-down Verhalten

Das, was man den Staat nennt, hat aus meiner Sicht zu sehr die Führung übernommen. Und so setzen Bürgerinnen und Bürger zu sehr darauf, dass die Pandemie auf einer staatlichen Verwaltungsebene gelöst wird. Die Haltung, die wir benötigen, besitzt die Grundstruktur der Aufklärung. Und dazu gehört der Werterahmen Freiheit, Gleichheit, Solidarität.
Markus Gabriel, in: Philosophie Magazin, Dezember 2021

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

du brauchst einen Baum

was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

Friederike Mayröcker

Die Poesie und die Zeit

Poesie hat mit der Erfahrung von Zeit zu tun. Vielleicht könnte man sagen: Sie ist eine Art, die Gegenwart ganz Gegenwart sein zu lassen. Ein Mittel, die Zeit anzuhalten. Während des Lesens, des Betrachtens der Bilder oder des Hörens von Musik lässt man die Vergangenheit ruhen, nicht im Sinne des Vergessens, sondern des anstrengungslosen Loslassens, und man lässt sich von keinen angestrengten Erwartungen an die Zukunft die Gegenwart verstellen und verwischen.  Die poetische Gegenwart ist wie herausgehoben aus dem Fluss und der drängenden Abfolge des zeitlichen Geschehens. Das hat etwas mit den leuchtenden Mosaiksteinen in deiner entlegenen Kapelle zu tun. Poesie erlaubt einem, ganz bei einer Sache zu sein. Etwas Poetisches, ein Satz, ein Bild, ein Klang: Es fesselt einen wie nichts sonst. Man möchte, dass es nicht aufhört oder verschwindet, man möchte immer mehr davon.

Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte, 2020